Kann man selbst objektiv sein?

von Simon Chedid

Objektivität ist ein Anspruch, dem viele Menschen gerecht werden wollen. Man verbindet damit die Fähigkeit einer sachlichen, unvoreingenommenen sowie überparteilichen Meinungsbildung. Bei politischen und gesellschaftlichen Debatten wird von den Teilnehmenden dieses Attribut erwartet. Jedoch kann kein Mensch das tatsächlich mitbringen. Die individuelle Lebenserfahrung einer Person hat einen, je nach Situation unterschiedlich starken, Einfluss auf deren Entscheidungen. Wissenschaftler sind hierbei nicht ausgenommen, weil die Methodik ihrer Arbeiten nach individuellem Ermessen variiert, wobei dies zu unterschiedlichen Ergebnissen führt. Das stellt im Übrigen die Grundlage für fachliche Diskurse dar. Ansonsten gäbe es nur wahr oder falsch. Menschen kommen dennoch häufig zu dem Schluss, dass eine bestimmte Person objektiv sei.

Diese Feststellung beruht allerdings auf subjektivem Empfinden. Ein Mann, der sich der Öffentlichkeit mit einem Anzug und dem dazugehörigen Outfit präsentiert und dabei stets auf eine sachliche Formulierung achtet, erweckt bei vielen einen seriösen und ernstzunehmenden Eindruck. Dabei rückt die Frage nach dem Wahrheitsgehalt seiner Aussagen und seiner Qualifikation hinsichtlich des behandelnden Themas in den Hintergrund. Schließlich hat insbesondere seit der Einführung sozialer Medien die Informationsvielfalt für den Durchschnittsbürger ein Maß erreicht, bei dem es für ihn kaum mehr möglich ist, die gelesenen Meldungen auf ihre Authentizität hin zu überprüfen. Folglich werden andere Maßstäbe genutzt, um die Seriosität einer Nachricht zu ermitteln.

Ein Beispiel für dieses Phänomen ist der umstrittene Schweizer Historiker Daniele Ganser, der unter anderem durch seine Äußerungen zum Russland-Ukraine Konflikt an Aufmerksamkeit und Zustimmung gewann, obwohl er keine wissenschaftlichen Schriften diesbezüglich veröffentlicht hat. Ihm gelingt es, sich in seinen Vorträgen mithilfe seiner geschäftsmäßigen Kleidung sowie seiner sachlichen Ausdrucksweise als glaubwürdig darzustellen, sodass viele seine Thesen überzeugend finden. Zudem ist der Gedankengang weit verbreitet, wonach die ausbleibende Parteinahme in Bezug auf eine Auseinandersetzung die eigene Objektivität belegt. Allerdings existieren in bestimmten Konflikten, wie z. B. einer Vergewaltigung oder eines völkerrechtswidrigen Angriffskrieges, klare Täter- und Opferrollen.

Die konsequente Durchsetzung dieser Überzeugung hätte zur Folge, dass dem Opfer eine Mitschuld an dem Verbrechen gegeben wird. „Aber sie hatte ein kurzes Kleid an“, heißt es aufgrund dessen häufig, nachdem eine Frau Opfer eines sexuellen Übergriffs wurde. Hiermit wird der Person eine Provokation und im Umkehrschluss die Entstehung der eigentlichen Tat unterstellt. Das ist keine Neutralität, sondern gibt einigen Personen lediglich den Eindruck einer Überparteilichkeit, da Vorwürfe an beide Parteien erhoben werden. In diesem Fall muss man sogar von Unterstützung des Täters sprechen, denn sollten sich derartige Ansichten weit verbreiten, könnten die eine Strafmilderung herbeiführen. Zum Schluss ist zu betonen, dass die Wahl des Kleidungsstils bzw. das Ausleben individueller Bedürfnisse selbstverständlich keine Angriffe dieser Art rechtfertigt oder provoziert, sondern lediglich die Ausübung des Rechts auf freie Entfaltung der Persönlichkeit darstellt.