Vielleicht habt ihr in der Ausgabe aus dem letzten Jahr den Artikel unserer geschätzten ehemaligen Redakteurin Marie Gräff gelesen. Es ging um den Optimierungsmensch; unseren Wahn immer gesünder und schöner, immer leistungsfähiger, immer sozialer – im Großen und Ganzen also immer perfekter werden zu wollen.
Es stimmt; gerade unsere Generation wird oft mit den hohen Ansprüchen der Gesellschaft konfrontiert.
Wir sollen kreativ, effizient, fleißig, neugierig, erfahren und in allem gut und erfolgreich sein.
Und dabei stets super aussehen und uns natürlich auch so fühlen. Die Idee eines derartigen Gesellschaftsideals, die durch Medien, Firmen und oft bereits in den Schulen in unsere Köpfe eingepflanzt wird, lässt den Anspruch an uns selber stetig zunehmen und sorgt dafür, dass wir ihm eigentlich nie gerecht werden können.
Wie also damit umgehen?
Sicherlich gibt es einige unter euch, die jetzt mit dem Kopf schütteln, weil sie die momentane Situation zwar teilweise als stressig, aber eben als unveränderlichen Zustand ansehen. Ja, mein Gott – ist halt so. So schlimm ist es ja auch wieder nicht.
Ist es das? Es stimmt, dass sich viele von uns bereits an diese Forderungen gewöhnt und damit umzugehen gelernt haben. Ich behaupte allerdings auch, dass eine ganze Menge von euch nicht so gut damit klar kommt, wie sie vielleicht denkt.
Kaut ihr an den Fingernägeln? Pult ihr an kleinen Wunden rum? Vergeht euch öfter der Appetit, wenn ihr unter Stress steht, traurig oder frustriert seid oder zieht ihr euch ab und zu gerade deswegen mal besonders viel Junk Food rein? Ich kenne auf jeden Fall eine Menge Leute, die solche Angewohnheiten schon einmal hatten, bzw. haben.
Was macht also dieser tägliche Druck auf uns mit uns?
Ganz einfach: Er schlägt uns auf die Psyche. Wir fühlen uns ungenügend, schwach, nicht bestätigt – und lassen es häufig an unserem Körper aus.
Dieses Phänomen hat einen Namen: Psychosomatik. Sicher hat jeder schon einmal den Ausdruck „Der Körper ist der Spiegel der Seele“ gehört. Das beschreibt den Kern der Psychosomatik eigentlich ganz gut, denn letztendlich geht es darum, den schlechten Umgang mit sich selbst und seinem Körper als Ventil für die eigenen psychischen Wehwehchen zu verwenden.
Die Problematik kann sich entweder als allgemein bekanntes und belächeltes Laster äußern, aber – bei einer hohen Belastung oder Sensibilität – auch schwerwiegendere Folgen haben. Essstörungen wie Anorexie, Bulimie, Binge-Eating, Migräne und Selbstverletzung aufgrund von Depressionen sind psychosomatische Erkrankungen, deren rasanten Anstieg Statistiken seit einem guten Jahrzehnt belegen.
Gerade unsere Geeration ist davon betroffen. Laut einer Studie der WHO zum Thema Psychosomatik aus dem Jahr 2013/14 hatten in Deutschland ca. 30% der Mädchen und 17% der Jungen zwischen 11 und 15 mit minder bis schweren psychosomatischen Beschwerden zu kämpfen. Diese Kinder sind nur ein, zwei Jahre jünger als viele von uns.
Nehmt also mögliche Anzeichen bei Freunden, Verwandten oder vielleicht bei euch selber ernst!
Ich plädiere nicht dafür, dass sich jede/-r Nägelkauer/-in sofort in Psychotherapie begeben sollte und sicherlich stecken hinter den psychischen Erkrankungen der deutschen Bevölkerung weitere Gründe. Aber fragt euch öfter mal, wie es euch eigentlich geht – mit der Welt, mit euch, mit eurer Familie – und führt euch persönliche Erfolge und positive Erfahrungen vor Augen.
Fresst Probleme und Ungerechtigkeiten nicht in euch rein; Lasst es raus, wenn es euch schlecht geht. Holt euch Hilfe, falls ihr mit etwas nicht weiter kommt.
Momentan, wo so viel Unrecht auf der Welt geschieht, wir uns immer mehr ranhalten müssen um mitzukommen, immer mehr lernen, immer besser funktionieren sollen, ist diese Art von Selbstfürsorge eine der notwendigsten Maßnahmen, die ihr für euer eigenes Wohl ergreifen solltet.
Denn wenn ihr euch erst einmal lange genug vernachlässigt habt, verzeiht euch eure Psyche und eben oftmals auch euer Körper nicht mehr so schnell. Jeder, der mal an den Nägeln gekaut hat, weiß, wie schwer es ist, davon loszukommen.
Jetzt stellt euch mal vor, wie hart und lange man mit einer schwerwiegenden, psychischen Erkrankung zu kämpfen hat, um letztendlich an dem Punkt anzukommen, an dem man erkennt, dass man eben nicht alles schlucken kann – dass man auch mal egoistisch sein muss, um nicht kaputt zu gehen. Und das Wort „egoistisch“ werte ich in diesem Zusammenhang keinesfalls als negativ.
Wir können den Zustand des idealen Menschen einfach nicht erreichen. Aber es bleibt zu hoffen, dass wir uns zum Wohle der gesellschaftlichen und ökonomischen Situation irgendwann vielleicht nicht mehr selber schaden müssen.
Fotos – Lisanne Wolters