Interview mit Pascal Busche: Analphabetismus geht uns alle an!

Alexander Braunmiller

Er betrifft jeden siebten Erwachsenen in Deutschland, seinen Ursprung hat er häufig in der Familie: Der funktionale Analphabetismus. Ein obendrein problematisches Lernumfeld, sowie die Stigmatisierung in der Gesellschaft machen es den Betroffenen nicht gerade leichter. Im Interview erklärt uns Pascal Busche vom Projekt iChance, was wir als Einzelne tun können, um den Betroffenen zu helfen, damit uns das Problem nicht irgendwann mal auf die Füße fällt.

Gelassen und zurückgelehnt sitzt Pascal Busche in seinem Stuhl und zupft geschmeidig an seinem Bart. Er trägt Cap und Turnschuhe, spricht entspannt und besteht darauf, geduzt zu werden. Pascal strahlt ganz aufgeweckt, als er zu erzählen beginnt.

Der 37-Jährige ist wissenschaftlicher Mitarbeiter für Aufklärung, Kommunikation und Bildungsmedien bei der Initiative iChance. „Ist wie Social-Media Manager“, meint er. Pascal möchte mit seiner Arbeit vor allem eines: Menschen dazu animieren, funktionale Analphabeten in ihrem Bekanntenkreis zu erkennen und ihnen anschließend zu helfen.

Pascal Busche von iChance

Verweis: Ist funktionaler Analphabetismus unter jungen Menschen in Deutschland überhaupt ein schwerwiegendes Problem?
P. Busche: Ja, ganz besonders unter jungen Menschen, da sie noch einen Großteil ihres Weges vor sich haben. Allein in Deutschland sind ca. 1,5 Millionen Betroffene zwischen 18 und 29 Jahre alt.
Der Problemdruck wächst mit der Zeit. Anfangs entwickeln Betroffene Mechanismen, wie sie das Problem ausgeblendet bekommen, lassen sich von anderen in Alltagssituationen helfen und kommen damit durch. Jedoch wird das mit der Zeit immer schwieriger. Sehr viele Leute, die einen Kurs besuchen, um das Problem zu bekämpfen, tun das, weil sie ihren Kindern nicht bei den Schulhausarbeiten helfen können. Unsere Zielgruppe sind junge Leute, die häufig nicht das Maß der Auswirkungen erkennen, zumindest bis sie mit der harten Realität konfrontiert werden.

Bildergalerie: iChance-Motive des Cartoonisten Michael Holtschulte

Verweis: Mit welchen Mitteln versucht ihr bei ‚iChance‘ die Betroffenen zu erreichen?
P. Busche: Im Alltag arbeiten wir viel mit sozialen Medien. Facebook, YouTube, Instagram und Twitter sind aktuell die Kanäle unserer Wahl. Darüber hinaus planen wir Aktionen, bei denen wir junge Menschen persönlich über die Problematik aufklären. So helfen uns Workshops mit Bezug zum Lesen und Schreiben, das Thema direkt in das Umfeld betroffener junger Leute zu tragen. Themen sind zum Beispiel Rap, Graffiti oder so wie heute die Schülerzeitung.

Verweis: Wie kann ich einen solchen funktionalen Analphabeten in meinem Umfeld erkennen?
P. Busche: Da gibt es verschiedene Indikatoren, die darauf hinweisen. Weil es keine Krankheit ist, haben wir kein Diagnoseverfahren, jedoch gibt es auffällige Anzeichen, die möglicherweise dafür sprechen. Der Klassiker: Das Vermeiden von Lese- und Schreibsituationen. Sie erfinden Ausreden, wenn sie mal irgendetwas lesen müssen, wie „lies du mal vor, ich habe meine Lesebrille vergessen“, oder auch vor Schreibsituationen, z. B. beim Behördenformular mit „ich habe mir neulich die Hand verstaucht, können Sie das bitte übernehmen?“
Hinzu kommen ein sehr unleserliches Schriftbild, Wortfindungsschwierigkeiten, der Lesefinger und sehr langsames Schreiben; allerdings kommt es in den meisten Fällen aufgrund der Ausreden gar nicht erst bis zur Erkennungs-Ebene.

Verweis: Also ist das Thema für Betroffene häufig mit Scham verbunden?
P. Busche: Ja, genau. Meistens verbergen sie das Problem recht gut, jedoch hat eine neue Studie, aufbauend auf der leo.-Studie der Uni Hamburg, festgestellt, dass die funktionalen Analphabeten durchaus Leute aus ihrem Umfeld über ihre Schwäche aufklären; meist Verwandte, Freunde oder Kollegen, die sie brauchen, um sich zurechtzufinden. Jedoch ist das nur ein Vertrauenszirkel.

Verweis: Inwiefern wird den funktionalen Analphabeten bei ‚iChance‘ geholfen?
P. Busche: Unsere gesamte Öffentlichkeitsarbeit zielt final darauf ab, die Betroffenen zur Inanspruchnahme von Lernangeboten zu bewegen. Die größte Erfolgsaussicht bietet der Besuch von Lese- und Schreibkursen. Es gibt auch Lernplattformen im Internet. Diese können sich aber nie so gut auf die Bedürfnisse der Lernenden einstellen, wie die persönliche Betreuung im Kurs.
Wir finden Antworten auf Vorurteile und kommunizieren diese, in dem wir das Problem öffentlich machen. Deshalb fokussieren wir uns in erste Linie auf das Erreichen der Gesellschaft, um dadurch das Umfeld und schlussendlich den Analphabeten selbst zu erreichen.

Verweis: Und kann man das Problem sozusagen ‚heilen‘?
P. Busche: Das Wort ‚Heilung‘ ist unpassend. Wie bereits erwähnt, ist es keine Krankheit. Leider sind im Moment nur ca. 10.000 Deutsche im Kurs; bei über 7 Millionen Betroffenen ist das unglaublich wenig. Darum gibt es bis 2026 die Dekade für Alphabetisierung, damit sich daran endlich etwas ändert. Im Grunde ist das Problem ein Versäumnis, ein Defizit, häufig begünstigt durch eine Lernschwäche, was wiederum auch keine Krankheit ist.
Jedoch ist es möglich, dieses Defizit zu überwinden, allerdings ist es auch ein langer Weg. Meistens reicht ein Kurs nicht aus.

Verweis: Und wie schafft man das am besten?
P. Busche: Personen mit diesem Problem müssen einfach die Angebote in ihrer Umgebung nutzen und sich auf diese einlassen, auch wenn es an manchen Stellen unbequem wird. Kurse sind meist die beste Chance und wenn man sich in diesen arrangiert, Ausdauer hat und die notwendige Arbeit reinsteckt, dann schafft man das.
Als ich neulich auf der Auftaktveranstaltung der Dekade mit Betroffenen gesprochen habe, konnte ich sie teilweise von ihrem Auftreten her nicht von Leuten, die für irgendeine Institution, als Professoren oder als Minisiteriumsmitarbeiter da waren, unterscheiden. Es fiel mir wie Schuppen von den Augen, als sich jemand als Betroffener vorstellte, der jetzt lernt und an sich arbeitet. So ging es mir mit mehreren Anwesenden.

Verweis: Was würdest du Menschen raten, die funktionale Analphabeten im Bekanntenkreis haben?
P. Busche: Geht mal auf unsere Homepage, www.ichance.de, und klickt euch da mal durch. Da gibt es drei Stufen: Wissen, Erkennen, Helfen. Dort steht, wie man vorgehen kann. Wichtig ist z. B. der Punkt: ‚Wie spreche ich Betroffene an?‘, weil die Person es häufig nicht von sich aus sagt.
Und vor allen Dingen benötigt es einer sensiblen Ansprache, man muss Zeit mit ihnen verbringen und den Menschen zuhören, denn sie haben häufig ein großes Mitteilungsbedürfnis.
Danach kommt es auf die aktive Unterstützung an, z. B. durch Fragen wie ‚was kann ich für dich tun?‘, oder ‚es gibt da so einen Kurs, komm ich helfe dir.‘
Das Lesen- und Schreibenlernen kann man den Menschen nicht abnehmen, man kann sie aber auf ihrem Weg unterstützen. Das erfordert vor allen Dingen Zeit, man wird zuhören und sich auf sie einlassen müssen.
Ich hoffe wirklich, dass sich viele Menschen die Mühe machen werden. Es ist essenziell, an dieser Stelle aufzustehen und zu helfen, denn es ist ein elementares Problem, das uns irgendwann noch um die Ohren fliegen wird, falls wir es nicht in den Griff bekommen. Denn Bildung ist ein Schlüssel zu allem.


Funktionaler Analphabetismus

Funktionale Analphabeten können durchaus lesen und schreiben, jedoch meist nicht auf dem Niveau, das im Alltag häufig benötigt und von unserer Gesellschaft erwartet wird.
Die Schriftsprachbeherrschung Betroffener entspricht häufig der von Grundschülern aus der 2. oder 3. Klasse.

iCHANCE klärt über funktionalen Analphabetismus in Deutschland auf – Freunde, Familie, Kollegen und natürlich die Betroffenen selbst. Weitere Infos findet ihr unter www.ichance.de