Die Notlüge – jeder kennt sie, jeder nutzt sie und jeder definiert sie anders. „Schatz, sehe ich in dem Kleid dick aus?“, „Bist du gekommen?“, „Wie geht es dir?“ und „Liebst du mich?“ sind Fragen, die in den meisten Fällen eine Notlüge provozieren.
Ob Notlügen moralisch vertretbar sind, wird häufig diskutiert, doch meist mit den immer gleichen Argumenten. Eine Notlüge ist für den einen eine Lüge, welche das Gegenüber vor Leid schützt, für den anderen ist es eine Lüge zum Selbstschutz und für Politiker ist es meist beides. Wenn jemand seinem Partner auf die Frage hin, ob man fremdgeht, belügt, schützt man sich selbst und den Partner vor potenziellem Leid. Wenn der Partner für die sexuelle Leistung gelobt werden möchte, ist die Lüge wieder der Schutz des Partners vor einer Kränkung und eine Form des Selbstschutzes. Wer will schon mit einem wütenden, schweigenden oder weinerlichen Partner gelangweilt auf dem Sofa vor einem schlechten, deutschen Krimi einschlafen? Die Notlüge ist also eigentlich auch immer ein Stück weit Selbstschutz.
Um über die moralische Seite der Notlüge nachzudenken, muss man die anderen Sorten der Lüge untersuchen. Es gibt die Lüge zur Selbstinszenierung: „Ich bin ein fantastischer Koch!“, die Lüge zur Manipulation: „Später bekommst du Eiscreme“, und die, eben schon erläuterte, Notlüge. Ist ja auch logisch, niemand möchte vom Ex-Partner ein totes Kaninchen in den Briefkasten geworfen bekommen, vom Chef für die Kritik an dessen Modebewusstsein angeschrien werden oder vom eigenen Gewissen für das wiederholte Nichtanrufen der Eltern bestraft werden. Am meisten lügen wir nämlich, abgesehen von unseren potenziellen zukünftigen Partnern, uns selbst an.
Die Notlüge möchte, im Vergleich zur Manipulation, eher Ruhe, als etwas Neues auf einer unechten Grundlage schaffen. Im Vergleich zur Selbstinszenierung möchte die Notlüge den Lügner nicht als Held, sondern eher als Nicht-Nicht-Held, darstellen. Die Notlüge soll vor unangenehmen Situationen schützen und ist die bei weitem egoistischste Lüge, die ein Mensch erzählen kann. Die Notlüge ist auch die bescheidenste Lüge, die ein Mensch erzählen kann. Man versucht nicht eine neue Welt zu schaffen und dadurch Menschen zu kontrollieren wie bei der Manipulation und man versucht auch nicht, sich selbst als besten oder wenigstens guten Menschen darzustellen. Manchmal versucht die Notlüge sogar einfach nur die Missgunst oder den Neid der Mitmenschen zu vermeiden: „Ja ich rauche.“, „Nein, ich bin keine Jungfrau mehr.“ und „Ja, ich habe eine demokratische Partei gewählt.“, sind klassische Beispiele.
Dramatisch wird es, wenn Menschen beginnen so zu tun, als wären sie keine Menschen mehr. Natürlich hatten meine Eltern keine schlechten Noten, die Klassenbesten lernen nicht und die 13-Jährigen hatten alle schon Sex.
Die Notlüge ist so furchtbar, da sie im Vergleich zu den anderen Arten die realistischste Lüge ist, die ein Mensch erzählen kann. Der hohe Nutzen der Notlüge sorgt dafür, dass sie die meist genutzte Lüge ist. Die Notlüge ist die menschlichste Art der Lüge. Ich war nie ein Fan von Popmusik, ich habe nie auf den Toilettenrand gepinkelt, ich masturbiere nicht, ich weine nicht, ich verstehe dich und ich lüge nicht.