Kurzgeschichte: Wir gedenken dem Weg

Daniel Plotetzki

„Liebe Familie, liebe Angehörige, liebe Trauergemeinde.

Wie soll ich nur beginnen? Er schied zu früh dahin. Glitt aus der Welt wie ein Eiskunstläufer, der über die Bahn fegend eine Pirouette in das ewige Eis gezeichnet hat. Schnell und unbekümmert war er bis zum Schluss. Gerade einmal 22 Jahre hat er auf dieser schönen Erde verbracht. Viele hier, das weiß ich genau, konnten es nicht fassen, ein so junges Leben dahinscheiden sehen zu müssen.

Nun soll es meine Aufgabe sein, Trost zu spenden und den Verstorbenen sowie auch die Hinterbliebenen, auf diesem letzten Weg zu begleiten. Denn am Ende angekommen, heißt es Abschied nehmen. Hier an dieser Gabelung des Lebens, Gabelung des Glaubens, Gabelung der Gefühle soll die Entscheidung nun fallen. Loszulassen. Und ich weiß, dass ich dies nun machen muss, ohne viele weitere Worte zu verlieren. Denn man kann die Trauer, den Schmerz, das Mitleid nicht in Worte fassen. Sie versagen dort, wo ein altes Leben endet und ein Neues nun beginnen kann.

Das Leben ohne eine geliebte Person. Vor allem aber wird dieser Weg nicht leichter. Die Bürde, die Trauer erschwert uns den Schritt nach vorn. Drückt unseren Blick nach unten. Doch hoffe ich, dass wir uns nun gegenseitig stützen. In unserer unendlichen Ohnmacht sollen wir einander helfen wieder aufzustehen. Voranzuschreiten. Wir dürfen weinen, schreien, flehen, unsere Verfehlungen kundtun und zu Boden gehen, solange wir nur eine kleine Ewigkeit hier verweilen. Wir müssen uns einer Sache bewusst werden.

Dies ist lediglich ein weiterer Schritt ins Ungewisse. Keiner kann ahnen, was noch auf uns zukommt. Doch ist es die Möglichkeit, Entscheidungen zu treffen, deren Macht wir nutzen sollten. Wer wären wir, wenn wir uns verzehren lassen würden von dieser Pein? So stehen wir nun hier und gedenken jenem, dessen Weg sich hier von unserem trennt…“

So schwafelt dieser eingebildete Priester weiter, als wäre er der Herr der Lage. Seine Worte sollen Gutes tun, Trost spenden. Sie sind voll mit Symbolik, dennoch inhaltlich leer. Sie rinnen dahin wie ein Bach, der das Tal hinunterfließt. Langsam. Stetig. Sie werden leiser und leiser, als meine Gedanken lauter werden. Sie werden dumpfer, als würde ich in die Tiefen des Meeres hinabsinken.

Während ich spüre, dass nun auch mein Geist die irdene Welt verlässt und außer dem Licht am Horizont alles andere an Bedeutung verliert, wenden sich meine letzten Gedanken reflektierend an mich selbst. Wege sind da, um beschritten zu werden – ein Spruch, der widerspiegelt, welch eine Vielzahl an Möglichkeiten uns doch dargeboten wird, und zugleich zeigt er uns immer wieder die Grenzen unseres Tuns auf.

Ein Weg ist nur solange einer, bis er in einer Sackgasse endet. Umzukehren scheint dann meist nur allzu beschwerlich. So verharrt man dann dort. Gibt sich seiner selbstverschuldeten Stagnation hin. Einen Schritt zurückzugehen, um einen neuen Weg einschlagen zu können, kommt doch heutzutage keinem in den Sinn. Am Ende bekommen die Menschen um einen herum noch den Eindruck, man habe sich verlaufen, was doch vollkommen inakzeptabel wäre.

Doch hier zu stehen, kann man trotz allen Druck nicht auf andere schieben. Man hätte sich ja auf der Reise nach dem Weg erkundigen können. Doch wer macht das schon? Jeder ist so auf sein eigenes Weltbild fixiert, dass eine andere Meinung gänzlich wie ein Fremdkörper behandelt wird. Erkannt und aussortiert bevor er Schaden anrichten kann. So sind wir doch alle. Zumindest ein bisschen. Wir sehnen uns nach Fixpunkten, absoluten Wahrheiten und Beständigkeit im Leben für die Lebenden und zum Trotz der Toten. Dabei schallen Worte der Vergangenheit stetig in den Hallen der Traumschlösser, die wir uns erbauen. Doch unter dem Strich dienen diese nur dem Selbsterhalt.

Wir ziehen Inhalte kontextlos aus den Worten der Toten, da diese uns nicht widersprechen können. Die Worte sind die Ziegelsteine, mit denen wir Wände bauen. Selbsterhaltende Ideologien hingegen sind der Mörtel, die die Worte zusammenhalten. Das Ganze bauen wir auf einem Fundament eines großen Mannes, der zu seiner Zeit gegen ungeprüfte, geistig versklavende Ideologien gekämpft hat, um unsere Denkweise zu legitimieren: „Befreit euch aus eurer selbstverschuldeten Unmündigkeit! Macht euch euren eigenen Verstand zu Nutze!“ So klingen die eigenen Ideen noch so viel reizvoller.

Wir bauen uns die Realität, wie sie uns gefällt. Und der Nachhall scheint uns Recht zu geben. Lobpreisend! Selbsterbauend! Ein Echo unserer Selbst, das uns in Sicherheit wiegt und Selbstbestätigung erteilt. Nur ein kurzer Augenblick geballt auf mich fixiert, bevor die eigene Welt förmlich kollabiert. „Nichtsnutz! Taugenichts! Du wirst es nie zu etwas bringen! Ich habe dir doch gleich gesagt, das geht schief! Deine Aussichten sind alles andere als rosig! Du solltest dir Alternativen überlegen!“, rufen die Stimmen in meinem Kopf.

Stopp! Seid still! Sorgen von jenen, die mir einst etwas bedeutet haben. Oder doch nur meine eigenen? Als würde das noch eine Rolle spielen.