Besuch von Robert Domes an unserer Schule

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Julius Maneth

Da sitzen wir nun dicht gedrängt im Viererblock und erblicken einen Mann mit Jeans, Kapuzenhemd und angegrautem Haar, der gegenüber von uns Platz genommen hat. Über ihm beäugt uns das mannsgroße, farblose Lichtbild eines ernsthaft dreinblickenden Jungen.

Der Mann heißt Robert Domes. Er ist der Vater einer ehemaligen Absolventin unserer Schule, war einst Leiter zweier Lokalredaktionen der Allgäuer Zeitung und fasste 2002 den Entschluss „aus dem Hamsterrad des Tagesjournalismus herauszubrechen“. Als freiem Journalist fiel ihm eines Tages die Krankenakte des Junge zu, über dessen Schicksal Herr Domes innerhalb eines halben Jahres eine Romanbiografie schreiben wollte. Nach vier Jahren Recherche; einem halben Jahr Schreiben; eineinhalb Jahren Verkauf, Lektorat sowie Bearbeitung erfolgte die Veröffentlichung von „Nebel im August“ erst im Jahr 2008. „Hätte ich das damals gewusst, ich hätte die Finger davongelassen – garantiert“, beteuerte Herr Domes am Anfang seiner Lesung, „aber manchmal ist Naivität und Blauäugigkeit auch ein Segen im Leben.“

Robert Domes

Daraufhin erzählte Herr Domes die Lebensgeschichte des Jungen. Der Augsburger Ernst Lossa ist am 1. November 1929 geboren. Er stammt aus einer Familie von Jenischen und gilt als schwieriges Kind. Nachdem er von mehreren Heimen weitergereicht worden ist, muss er in die psychiatrische Anstalt in Kaufbeuren. Dort ermordet man ihn während der zweiten Phase der nationalsozialistischen Euthanasie durch Injektion eines tödlichen Mittels in der Nacht zum 9. August 1944.

Im Anschluss daran erfuhren wir, wie Herr Domes versuchte, dieses grausame Thema in ein Format zu packen, das nicht ausschließlich Experten lesen können, sondern auch seine eigenen Kinder und alle Interessierten. Dafür musste er einerseits die Handlung für den Roman realistisch hineininterpretieren, weil niemand den Alltag bzw. die Gefühle von Ernst Lossa festhielt. Andererseits entschloss er sich aus dem Blickwinkel des Opfers zu schreiben, da man den Täterblick bereits aus den Akten der Nationalsozialisten kennt. Infolgedessen ist das Buch entstanden, das sich inzwischen in der achten Auflage befindet, kürzlich verfilmt wurde und auch bald im Theater als Drama inszeniert wird.

Erinnerung im Buch

Im zweiten Teil der Veranstaltung las Robert Domes ausgewählte Textpassagen des Romans vor und fasste zusammen, was zwischen den Abschnitten passiert ist, wobei aus Zeitgründen die Beziehung zwischen Ernst und seiner Mitpatientin Nandl nicht erwähnt wurde. (Dabei konnte man als Zuhörer klar feststellen, wie die Handlung von einer zunächst schönen, kindlichen Atmosphäre ins immer größere Verderben und schließlich zum Tod führt.)
Zum Abschluss beantwortete Robert Domes zahlreiche Fragen des Publikums. Besonders interessant war dabei die Antwort auf die Frage, warum Ernst Lossa überhaupt umgebracht wurde, obwohl er arbeitsfähig war. Die Antwort ist besonders schrecklich, weil es keinen Grund brauchte, um in Anstalten wie in Kaufbeuren getötet zu werden. Die Opfer waren schlechthin einer willkürlichen Todesmaschine ausgesetzt. Die milden Strafen für die Täter, die nach der NS-Zeit von Gerichten verhängt wurden, sorgten noch in der nächsten Geschichtsunterrichtsstunde für Empörung. Aus den Anklagen für hundertfache Morde wurde im Verlauf der Prozesse Anstiftung zur Beihilfe zum Todschlag. „Juristisch gesehen gab es 200.000 Tote, aber keine Mörder“, betonte Herr Domes. Die Krankenschwester Pauline Kneissler hat allein in Kaufbeuren mindestens 200 Menschen umgebracht, war vorher in der Tötungsanstalt Hadamar sowie in einem Kriegslazarett in Russland tätig und wurde zu vier Jahren Gefängnis verurteilt. Sie wurde dann nach drei Jahren wegen guter Führung entlassen und arbeitete danach in Berlin als Kinderkrankenschwester.

tagesthemen 22:15 Uhr, 26.09.2016, Antraud Cordes-Strehle, WDR

Ernst Lossa

Robert Domes fasste in einem Schlusswort die Grundbotschaft seines Buches und des Films so zusammen: „Die sogenannten Asozialen waren manchmal die Sozialsten von allen und die sogenannten Normalen waren die Durchgeknallten.“ Dieser saloppe Spruch hat im Angesicht der Verstöße gegen die Menschlichkeit heutzutage nicht an Bedeutsamkeit verloren. Das Lichtbild Ernst Lossas repräsentiert diesen Gedanken.

Interesse geweckt? Dann kommst du hier zum Interview mit Robert Domes