Die Straßen von Hellersstadt

Print Friendly, PDF & Email

Am Anfang war nur eine kleine Nebenstraße betroffen. Nicht irgendeine Nebenstraße, aber doch nur eine Nebenstraße. In dieser Straße lebte Friedrich Hall und in dieser Straße stand auch Fried-richs Auto, mit welchem er tagtäglich um 6:49 Uhr aufbrach, um seiner Arbeit in den Kohlekraft-werken nachzukommen. Tatsächlich gab es in und um Hellersstadt noch eine rege Kohleindustrie, obwohl diese aufgrund ihrer schlechten Umweltbilanz bereits aus nahezu allen anderen Regionen der Nation verschwunden war. Hellersstadt war so etwas wie das letzte Drecksloch – hier arbeiteten die Leute entweder in der Auto- oder in der Kohleindustrie. Diese machten mit Sicherheit mehr als drei Viertel der Arbeitsplätze der Stadt aus. Viel mehr als 120 000 fleißige Einwohner mag es in Hellersstadt zu seinen Glanzzeiten wohl nicht gegeben haben. Immerhin, damit war die graue Stadt der letzte sterbende Arm der ehemals weit verzweigten Industrie.

Als nun Friedrich, der seit mehr als einunddreißig Jahren seine Routine beibehalten hatte und der diese nur drei oder vier Mal, aufgrund von Krankheitsfällen, abändern musste, auf die Straße hin-austrat, las er auf einem handgeschriebenen Schild die unheilverkündende Nachricht: „Gesperrt aufgrund von Straßenschäden“. Er konnte erst kaum seinen Augen trauen, doch mit einem Blick auf die Fahrbahn wurde klar, dass er heute nicht pünktlich zur Arbeit kommen würde. Die Straße war mit, im nasskalten Herbstwind flatternden, rot-weiß gestreiften Absperrbändern blockiert. Beim genaueren Hinsehen wurden für den älteren Mann einige Krater und Hügel auf der engen Fahrbahn sichtbar, an deren Seite die Autos, auch Friedrichs alter Kombi, parkten. Wütend und frustriert be-gab sich der schlechtgelaunte Hall zurück in seine Mietwohnung, setzte sich an seinen Küchentisch und dachte intensivst nach, ohne aber eine Erklärung, geschweige denn eine Lösung zu finden. Schließlich schrieb er eine Nachricht an seinen Chef und meldete sich krank: „Bin bewegungsunfä-hig, komme nicht vom Fleck, verstehs aber auch nicht so genau. LG, Fritz“. Daraufhin legte er sich zurück zu seiner Frau ins Bett, womit er sie mehr als nur gering erschreckte. Es war ungewöhnlich, dass ihr Mann sich von Hindernissen solcher Art aus dem Konzept bringen ließ. Er schien der erste gewesen zu sein, der wusste, dass der Kampf verloren war.

Weder hatte er die Zeitung aufgeschlagen, noch das Radio eingeschalten, weil er – nach eigenen Angaben – zu schlau war, um sich weiterhin verblöden zu lassen, aber hauptsächlich, weil er zu müde und angestrengt war, um sich mit Problemen zu befassen, die über seine Straße hinausgingen. Selbst mit diesen war er zu jenem Zeitpunkt offensichtlich schon überfordert. Herr Hall hätte an jenem Morgen erfahren, dass es sich bei der Krugerstraße, in welcher er lebte, nicht um die einzige, wenn auch um die erste Straße handelte, die über Nacht von spontanen Schäden heimgesucht wurde. Im Verlauf der Wochen und Monate hätte er erfahren, dass es sich bei den Kratern und Hügeln um die Hügel von Maulwürfen handelte. Eine millionenstarke Fraktion von militanten Maulwürfen musste in einer Art konzertierten Aktion hunderte, ja tausende Löcher in die Straßen Hellerstadts gegraben haben, ohne sich auch nur im Geringsten von der bröckelnden Betonbeschichtung beein-drucken zu lassen. Wer weiß, ob er damit hätte umgehen können.

Das Verkehrsaufkommen in der Stadt wurde im Verlauf der ersten Tage immer geringer, obwohl anfangs nur ein paar Prozent des Straßennetzes betroffen waren. Die Bevölkerung fühlte sich nicht mehr sicher auf ihren eigenen, einst heiligen Straßen. Die Menschen wollten ihre Autos in weiser Voraussicht lieber nicht mehr allzu weit von zuhause parken – die Maulwürfe sollten ihnen nicht ihr liebstes Phallus-Symbol stehlen. Im Verlauf der nächsten Monate stürzten ganze Garagen, ja sogar Parkhäuser ein, wurden Tankstellen dem Erdboden gleichgemacht. Die Akne der Maulwurfshügel verbreitete sich langsam auf die ganze Stadt, schließlich auch die Hauptstraße. Krankenhäuser und Einkaufsläden konnten nicht mehr versorgt werden, Häuser brannten, aufgrund der Bewegungsun-fähigkeit der Feuerwehr.

Der Bürgermeister versuchte anfangs seine Bevölkerung zu beruhigen, den betroffenen Einwohnern sogar Unsummen an Entschädigungen zu zahlen und versprach eine Generalrenovierung des Stra-ßennetzes, doch mittlerweile wurde er schon gut zwei Monate lang nicht mehr gesehen. Böse Zun-gen munkeln, er habe sich abgesetzt, wie eine Ratte, die das stinkende Auto verlässt. Wieder andere vermuten, er berichte der Regierungschefin und sei Teil eines Gremiums, welches sich mit Hellerstadts Problemen auseinandersetzen soll. Die überregionalen und sogar internationalen Medien hatten sich zuvor auf die Story geschmissen, wie zwei Influenterinnen auf ein iPhone. Entsprechend war ihre Reichweite beträchtlich und auch die Panik, die unter den Autobesitzern, aber auch bequemeren Fahrradfahrern ausbrach. Erst gestern behaupteten einige Schelme, auch in der Nach-barstadt seien Maulwurfshügel gesehen worden. Die Gerüchte konnten bisher noch nicht bestätigt werden. Mittlerweile scheint Hellerstadt von nationaler Bedeutung zu sein. Jugendliche protestieren, Alte schließen ihre Fenster und brüllen wütend vor dem Fernseher. Die gesellschaftlichen Fronten positionieren sich um einen riesigen Maulwurfskrater herum und funkeln sich feindselig an. Nicht mehr lange, bis der erste den fatalen Schritt in Richtung Grube machen wird. Die Zeit wird zeigen, ob das Loch geschlossen werden kann. Die ersten Kapitalisten überlegen es mit Geld zu füllen, die ersten Kommunisten hingen planen es mit Kapitalisten zu füllen, doch all dies tangierte den alten Arbeiter Hall kaum. Er blieb bis heute an seinem Zufluchtsort, wird wohl auch dort bleiben. Die Welt draußen war nie für ihn gemacht gewesen, oder hatte sich zu seinen Ungunsten verändert.

Er verstand einfach nicht mehr.